Donnerstag, 17. Dezember 2020


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«Kara Tepe versinkt im Dreck, und Europa schaut zu»

 

Am 7. Dezember 2020 fragte SP-Nationalrätin Samira Marti den Bundesrat: «Wieviele Kinder von Moria sind bereits auf Schweizer Boden?» Die Antwort des Bundesrates: Seit Anfang Jahr habe die Schweiz 54 unbegleitete minderjährige Asylsuchende mit einem familiären Bezug zur Schweiz aufgenommen. Zur Erinnerung: Es geht um 8'000 bis 12'000 Menschen, davon sind 3'000 bis 4'000 Kinder, die auf Lesbos «im Dreck» leben, wie es die österreichische Online-Zeitung ZackZack beschreibt: «Geflutete Zelte, frierende Kinder, Hoffnungslosigkeit – Kara Tepe versinkt im Dreck, und Europa schaut zu. Das Ersatzlager auf Lesbos, in dem Tausende von Flüchtlingen seit dem Brand in Moria leben müssen, ist für den Winter vollkommen ungeeignet. Und die Lage verschlimmert sich immer weiter.» Und der Bundesrat plant, wie er in der Antwort an Frau Marti weiter schreibt, dass «vor Ende 2020 eine weitere Gruppe von 17 unbegleiteten Minderjährigen in die Schweiz einreisen wird.» Daneben beteilige sich die Schweiz an der durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft koordinierte Evakuierung und Aufnahme von 400 Minderjährigen. Und: «Die Schweiz hat beschlossen, 20 Kinder und Jugendliche - unabhängig von ihrem familiären Bezug zur Schweiz - aufzunehmen.» Bravo. Und rechne: 54 plus 17 plus 20 macht 91 Kinder. Sie alle dürfen in die Schweiz kommen, und der Rest? Was ist mit den tausenden Erwachsenen? Die Schweiz weigert sich mehr Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl die Zentren hierzulande weniger als halb leer sind.

 

Was ist los mit Europa? Es gibt natürlich mehrere Erklärungsstränge. Einerseits gibt man lieber 35 Milliarden Euro für «Grenzschutz und Flüchtlingsabwehr» im Mittelmeerraum aus, als Flüchtlinge zu retten. Andererseits: Es ist hässlich, dass die EU mit Ungarn und Polen keinen Verteilschlüssel für die Aufnahme von Flüchtlingen auf die Reihe kriegt. Warum streicht man Orban und Duda nicht einfach das Geld, wenn Sie nicht mitmachen wollen? Weil es eben - zum Beispiel - auch andere in der Union gibt, die nicht «noch mehr» Flüchtlinge aufnehmen wollen. Sebastian Kurz, Bundeskanzler der Republik Österreich, bringt seine Grundhaltung exemplarisch auf den Punkt: Er erklärt die Situation auf Lesbos nach dem Brand von Moria seinen ÖsterreicherInnen, die in einem Land der Glückseligen leben (seine Worte an anderer Stelle) so: Er fühle mit den Menschen auf Lesbos, sagt er, und: «Die Bilder aus Moria lassen niemanden kalt», führt er in einem Video an die Nation aus, doch das Schlimmste, was passieren könne sei, dass sich die Situation von 2015 wiederhole. Die EU sei massiv überfordert gewesen und viele Menschen seien im Mittelmeer ertrunken, weil sie dachten, die Grenzen nach Europa seien offen. «Allein im Jahr 2015 waren es über 3'000 Tote». Dabei hätten Schlepper viel Geld verdient. Und nun hätten einige Migranten das Flüchtlingslager Moria angezündet, «um Druck zu machen, dass sie weiter von Lesbos aufs europäische Festland kommen können. Wenn wir diesem Druck jetzt nachgeben, riskieren wir, dass wir dieselben Fehler machen wie im Jahre 2015». Und zum Schluss sagt der Kanzler der Glückseligen (er wurde 2019 übrigens mit 37,5% ! der Wählenden zum Kanzler gewählt): «Dieses menschenunwürdige System aus dem Jahr 2015 kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren». Er meint vorallem das Schleppersystem. Denn gäbe es sie nicht, hätten wir keine Flüchtlinge. Gute Nacht bei so viel Zynismus......

 

Aktuelle Situtation auf Lesbos: ein kurzer Bericht auf Arte vom 7. Dezember 2020.

Und «Skandal Frontex» von Jean Ziegler in der Zeitung work vom 18. Dezember 2020.